Wohnung first, Bedenken second

Vom Wohnungsmarkt Ausgeschlossene können über das Housing-first-Projekt der Stadt eine Mietwohnung und freiwillige Betreuung bekommen – ein Zwischenstand

»Klar war ich auf der Straße zufrieden, ich hätte so weitergemacht«, sagt Christian Elkner. Doch jetzt sitzt er auf seiner Couch, in seinem Wohnzimmer, in seiner Wohnung, es gibt grünen Tee und Kuchen. Zehn Jahre war er obdachlos, bis ihn Streetworker auf das städtische Modellprojekt »Eigene Wohnung« aufmerksam machten.

Die Stadt stellt seit 2021 obdachlosen Menschen insgesamt 25 Wohnungen mit Mietvertrag zur Verfügung. Wer obdachlos ist und seine Miete zahlen kann, egal ob durch Erwerbsarbeit oder Sozialhilfe, darf sich anmelden. Bei der Aufnahme bevorzugt werden Menschen, die besonders stark sozial ausgegrenzt und von den bisherigen Hilfsangeboten kaum erreicht werden. Über den Träger Das Boot – ein sozialpsychiatrisches Zentrum – erhalten die Teilnehmenden auf freiwilliger Basis individuelle Unterstützung durch Sozialarbeitende.

Seit zwei Jahren sieht Christian Elkner den Sozialarbeiter Herrn Bastert fast jede Woche. Oft sogar häufiger, wenn zum wöchentlichen Kaffeekränzchen noch Termine kommen, zu denen dieser seinen Klienten begleitet. Bastert arbeitet für Das Boot und ist auch bei unserem Gespräch dabei. »Das Modellprojekt ist für Menschen, die zu oft enttäuscht wurden und schon jede Hoffnung verloren haben, die keine Lust mehr haben, sich irgendwelchen Regeln zu unterwerfen«, erläutert Bastert den Ansatz. Dazu habe auch Elkner gehört, der die Hoffnung auf eine eigene Wohnung längst aufgegeben hatte.

Bisher mussten obdachlose Menschen nachweisen, dass sie schuldenfrei sind und keine Suchterkrankungen haben, bevor sie eine Mietwohnung angeboten bekamen. Das ist bei diesem Projekt anders. Es folgt dem Housing-first-Ansatz, der sich in den USA und Finnland bereits seit Jahren bewährt. Tom Hübner, der im Sozialamt die Wohnungsnothilfen koordiniert, betont aber, dass die persönlichen Ursachen der Wohnungslosigkeit auch hier durch sozialarbeiterische Beratung angegangen werden.

Im Gegensatz zur klassischen Wohnungslosenhilfe aber eben in der eigenen Wohnung. Zudem habe man für das Modellprojekt die schwierigsten Fälle bevorzugt. »Diesen klassischen Housing-first-Ansatz hat in Deutschland meines Erachtens unsere Stadt zuerst umgesetzt«, sagt Hübner.

Nachdem der Stadtrat das Projekt 2021 angestoßen hatte, holte die Stadt dafür die Leipziger Wohnungs- und Baugesellschaft (LWB) ins Boot: Noch im selben Jahr wurden die ersten der insgesamt 25 LWB-Wohnungen durch zuvor obdachlose Menschen bezogen. Schon vor Projektstart registrierten sich 174 Menschen. Wer ausgewählt wurde, erhalte einen ganz normalen Mietvertrag mit der LWB, erklärt Hübner.

Für den Abteilungsleiter Soziale Wohnungshilfen ist das eine wichtige Voraussetzung, um die neue Unterkunft auch als eigene Wohnung wahrzunehmen: »Dass man die Wohnung wieder verlieren kann, bewirkt ja vielleicht bei den Menschen, dass man sich um die Wohnung auch kümmert.« Um den Teilnehmenden eine gewisse Wahlfreiheit zu lassen, wurden allen mindestens drei Wohnungen vorgeschlagen.

Christian Elkner entschied sich für die zentrumsnahe Wohnung mit Balkon. Nach zehn Jahren auf der Straße habe er Angst vor der Enge gehabt. Dass er gerne auf dem Balkon ist, sieht man selbst jetzt im Winter. Unter den Pflanzkästen und Meisenknödeln fällt sofort die bemalte Brüstung auf. Abstrakte Formen neben Blumen, die Windmühle an der Wand ist noch nicht fertig. Obwohl es gerade in der Anfangszeit »drunter und drüber« ging, wie Elkner berichtet, ist inzwischen etwas Ruhe eingekehrt.

Doch von Hausmeistern oder Nachbarn fühlt er sich immer noch kritisch beäugt. Er bekommt viel Besuch, bietet obdachlosen Menschen seine Hilfe an. »Gerade wenn du auf der Straße gelebt hast, warst du ja eigentlich nie allein«, fügt Bastert hinzu. »Diese Leute haben dann oft erst mal Schwierigkeiten, damit zu haushalten, wie und wer und wann bei ihnen zu Hause ist.« Daraus entstanden anfangs Spannungen mit der Nachbarschaft, die aber inzwischen geklärt seien.

In Leipzig habe man Wohnungslosigkeit lange nicht als Problem angesehen, sagt die Ethnologin Luisa Schneider. Für das Max-Planck-Institut in Halle hat sie die Kontextfaktoren für Wohnungslosigkeit in Leipzig erforscht, indem sie Betroffene begleitete. Früher habe es günstige Mieten und viel Leerstand gegeben, Wohnungslosigkeit sei so weniger sichtbar gewesen.

»In den letzten Jahren haben Spekulation mit Grund und Boden, Bauprojekte, steigende Preise und Menschen, die in die Stadt ziehen, den Wohnungsmarkt jedoch entschieden verändert«, sagt Schneider. »Der angespannte Mietmarkt betrifft auch uns sehr stark«, berichtet Hübner. Für das Sozialamt sei es früher einfacher gewesen, Wohnungen zu vermitteln. Christian Elkner erzählt, dass es für Menschen auf der Straße immer weniger Räume gebe. »Wenn ich schaue, wo ich mal überall gewohnt oder geschlafen habe: Das ist alles weg.«

Um Wohnungslosigkeit nachhaltig zu verhindern, fordert Ethnologin Schneider ein Umdenken. Weg von der Wahrnehmung als größtenteils selbst verschuldetes Problem hin zum Verständnis von Wohnungslosigkeit als Zeichen gesamtgesellschaftlichen Versagens:

»Unfreiwillige Wohnungslosigkeit in einer Gesellschaft sagt mehr über die Gesellschaft und ihre Werte aus als über die wohnungslosen Menschen und ihre Geschichten.« Dass die Stadt das Modellprojekt, das noch bis Ende 2024 läuft, nun langfristig weiterführen und ab nächstem Jahr auf 50 Plätze ausweiten will, sieht Schneider daher als großen Schritt.

Doch dass Housing first die unfreiwillige Wohnungslosigkeit in Leipzig allein abschaffen kann, glaubt keiner der Beteiligten. Trotzdem: Für einen Großteil der Betroffenen bietet die Wohnung einen sicheren Halt, um selbstbestimmt Probleme anzugehen. Auch die sozialarbeiterische Unterstützung bei alltäglichen Hürden – wie dem Öffnen der Post, dem Einkaufen oder Jobcenterterminen – reicht für die meisten aus.

An seine Grenzen kommt das Konzept dann, wenn der Betreuungsbedarf aufgrund psychischer Erkrankungen deutlich höher ist. Aus dem Leipziger Modellprojekt schieden bereits vier Menschen aus, weil die LWB die Mietverträge kündigte. Meist, weil es durch Psychosen der Teilnehmenden zu massiven Schäden in den Wohnungen kam. Für obdachlose Menschen ohne Anspruch auf Sozialleistungen bietet das Projekt keine Perspektive.

Im Sozialamt ist man trotzdem sichtbar stolz darauf, dass die meisten Teilnehmenden noch in ihren Wohnungen leben. »Ich hatte Angst, dass uns das Projekt um die Ohren fliegt«, gibt Tom Hübner zu. Dass die Betreuung über Jahre und bei manchen Menschen sogar dauerhaft erforderlich ist, sei ihm aber erst durch das Projekt klar geworden.

Auch Bastert freut sich darüber, dass die Betreuung jetzt weitergeht: »Herr Elkner ist jemand, an dem man gut zeigen kann, dass ein großer Teil unserer Arbeit die Beziehungsarbeit ist.« Diese Wirkung entfalte sich erst mit der Zeit. Für den Sozialarbeiter ist klar: »Die Hilfe wird erst beendet, wenn Herr Elkner sich wirklich so fühlt und sagt, dass er keine Hilfe mehr braucht.«

Auch sein Klient freut sich sehr über die Fortsetzung der Kaffeekränzchen. Die beiden haben eine gute Beziehung zueinander aufgebaut, vertrauen sich. Sie lachen oft, obwohl oder gerade, weil sich ihre Wahrnehmungen nicht immer decken, wenn sie über ihre gemeinsame Zeit reden. »Die größte Angst war schon, dass ich das hier verkacke«, sagt Christian Elkner, der dieses Jahr 40 wird. Aber: »Ich will hier wohnen bleiben, das Ding ist durch.«